2012
Förderpreis der DGfR des Jahres 2012
Preisträger: Herr Ludwig Hausmann
Promotion: "Europäische Fluggastrechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen"
Laudatio zur Verleihung des 10. Förderpreises der DGfR in Salzburg am 28.09.2012
Von Edgar Isermann, OLG-Präsident a.D. und Leiter der Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr, söp
Das Auswahlverfahren für die Verleihung des Förderpreises 2012 der DGfR fiel in die Zeit des Ablebens unseres Jury-Mitglieds Rochus Strangfeld. Frau Dr. Bidinger und ich als weitere Jury-Mitglieder haben nicht nur einen geschätzten DGfR-Kollegen verloren. In all den Jahren der gemeinsamen Jury-Arbeit war er uns mit seiner streng an der Sache und an hoher Präzision orientierten Herangehensweise ein liebgewordener Diskussionspartner, auf dessen Rat wir gern gehört haben und den wir sehr vermissen werden. Die Auswahl des diesjährigen Preisträgers zu treffen, konnte mit ihm wenige Tage vor seinem Tod in Ansätzen noch erörtert werden.
Dies bei der Laudatio vorauszuschicken, ist uns als Jury, meine Damen und Herren, nicht nur ein Gebot des Respekts, sondern vor allem ein persönliches Anliegen.
Zur Preisverleihung selbst:
Zwei wirklich hervorragend gute Dissertationsarbeiten lagen vor. Nur eine konnte prämiert werden.
Wir haben uns wieder für eine Arbeit entschieden, die Fragen des Luftverkehrs zum Gegenstand hat. Das war bereits in den Jahren zuvor der Fall, durfte aber kein Hindernis sein. Dieser Umstand zeigt, welche rechtliche Komplexität im Verhältnis von Flugunternehmen und Fluggästen steckt und welcher Erörterungs- und Klärungsbedarf nicht nur in zahlreichen Gerichtsentscheidungen, sondern auch in der juristischen Literatur gesehen wird.
Preisträger des Jahres 2012 ist Herr Ludwig Hausmann aus München für seine vor wenigen Monaten erschienene Arbeit zum Thema
"Europäische Fluggastrechte im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung und großer Verspätung von Flügen".
Ebenso wie Jens Peter Janköster als Preisträger 2010 geht es auch dem neuen Preisträger um eine Gesamtschau zu den Fluggastrechten, aber mit einem gänzlich anderen Ansatz, nämlich um eine wissenschaftliche Untersuchung speziell zur Fluggastrechte-Verordnung Nr. 261/2004. Damit greift er nicht nur ein in seiner Brisanz tapfer anhaltendes Thema auf. Erstmals widmet sich mit ihm ein Autor einem kompletten Sekundärrechtsakt des Europarechts, und das bei einer EG-Verordnung, die wegen zahlreicher Ungenauigkeiten und ihrer nicht immer überzeugenden inhaltlichen Stringenz die Juristen europaweit beschäftigt.
Gerade deshalb ist die Arbeit von Herrn Hausmann so verdienstvoll.
Ihre Brillanz, und das ist nicht übertrieben, liegt dabei in der analytischen Schärfe, mit der er die Probleme im Detail herausarbeitet, der Tiefgründigkeit, mit der er sie abhandelt, und der gedanklichen wie sprachlichen Präzision, die seine Ausführungen so nachvollziehbar und auch für den Praktiker wertvoll macht. Die Methodik des schrittweisen Vorgehens drängt nahezu das Bild vom Operateur auf, der mit dem Seziermesser jedes einzelne Partikelchen zerlegt und damit erst wichtige Erkenntnismöglichkeiten eröffnet.
Eine solche Befundanalyse zur VO Nr. 261/2004 war dringend nötig. Sie ist wissenschaftlich anspruchsvoll und wird die praktische Rechtsanwendung erleichtern.
Neben den Grundlagen und dem Anwendungsbereich der VO beleuchtet der Autor in weiteren Kapiteln die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen Anspruchsgrundlagen, die Einzelheiten zu den Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen und ergänzend zu den ohnehin durchgängig erfolgten Parallelsichten auf andere Rechtsgebiete wie etwa dem Pauschalreiserecht auch das Zusammenspiel der VO mit völkervertraglichen, europäischen sowie nationalen Vorschriften.
Einzelheiten des immerhin 591 Seiten umfassenden Werks können hier nicht referiert werden. Die behandelten Sach- und Rechtsfragen sind dafür zu umfangreich. Nur einige Aspekte sollen genannt sein, ohne deren Stellenwert überhöhen zu wollen:
- Die rechtliche Behandlung bei einheitlicher Buchung von Hin- und Rückflügen ist bekanntermaßen durch den EuGH geklärt. Nützlich sind die klarstellenden Ausführungen zur Beförderung über mehrere Teilstrecken, nach denen auch Umsteigeverbindungen in der Regel stets nur als ein Flug zu betrachten sind – ein für die Rechtspraxis nicht unwichtiger Punkt.
- Durchweg überzeugend ist ferner die Abgrenzung des Haftungsbereichs von Fluggesellschaften nach der Beherrschbarkeit der jeweiligen Verantwortungs- und Risikosphären bei der Frage, wann ein "außergewöhnlicher Umstand" haftungsbefreiend vorliegt. Diese Sichtweise erstreckt der Autor auch auf die Haftungsfrage beim Streik, für die es entgegen der bisher häufig vertretenen Ansicht unerheblich sein soll, ob es ein betriebseigener oder betriebsfremder Streik ist. Diese zutreffende Rechtsansicht ist durch die jüngste Entscheidung des BGH vom 21.08.2012 inzwischen bestätigt worden.
- Mit klaren Worten geht der Autor auf die Sturgeon-Entscheidung des EuGH vom 19.11.2009 ein und entfaltet einen Katalog der Vor- und Nachteile dieses Urteils. Er verdeutlicht einerseits seine argumentativen Schwächen und Unstimmigkeiten, räumt aber zugleich ein, welche wirtschaftlichen Belastungen für die Luftverkehrsbranche damit einhergehen.
- Letztlich sieht er in diesem Urteil jedoch eine gebotene richterrechtliche Nachbesserung, die sich seiner Ansicht nach in die Systematik der VO einpasst und methodisch die praktische Wirksamkeit des Rechtsakts der VO, den "effet utile", wahrt.
- Wünschenswert wäre in diesem oder sonstigen Zusammenhang gewesen, die Meinung gerade dieses Autors zur Frage einer Harmonisierung der europäischen Passagierrechte zu erfahren. Immerhin stehen sich bei der "Verspätung" als gleichem Tatbestand für die Passagiere von Flug und Bahn zwei „Rechtswelten“ für die Verspätungsfolgen gegenüber, indem der Bahnreisende eine am Ticketpreis orientierte "Entschädigung" erhält und die Verspätungspauschalen für Flugreisende wegen des Anknüpfens an die Regelung bei Annullierungen von der Systematik her als "Sanktionen" einzustufen sind.
- Interessant für die mit dem Pauschalreiserecht befassten Gerichte dürfte der Hinweis auf die ins Auge springende Unstimmigkeit sein, die sich bezüglich der Rechtsfolge bei einer Verspätung im Rahmen einer Pauschalreise einerseits und der reinen Luftbeförderung andererseits gilt. Während der Pauschalurlauber Verspätungen von 4 bis 6 Stunden noch als bloße Unannehmlichkeit gewertet bekommt, ohne dass ihm Minderungsansprüche zustehen, greifen Verspätungsfolgen bei der Luftbeförderung schon ab einer Verspätung von 3 Stunden.
Hier mahnt der Autor eine Anpassung der Grenze für die Bejahung eines Pauschalreisemangels nach unten an.
Für den Praktiker von Bedeutung und Interesse ist sicher auch das letzte Kapitel. Es befasst sich mit den Möglichkeiten und Wegen einer Durchsetzung der Verordnungsansprüche.
Zunächst wird insofern der Bereich der außergerichtlichen Durchsetzung abgehandelt.
Dabei wird der Unterschied in den Aufgaben und Verfahrensweisen des Luftfahrtbundesamts als der nationalen Durchsetzungsstelle im Sinn von Art. 16 der EG-VO und der Interessenverfolgung im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens zutreffend herausgearbeitet. Dass ich zu den denkbaren Perspektiven und Chancen, die mit einer Schlichtung im Luftverkehr verbunden sein können, nicht näher Stellung nehme, wird der hier anwesende Zuhörerkreis sicher mit Verständnis aufnehmen.
Sodann folgen detaillierte Ausführungen zu den Möglichkeiten einer effektiven Rechtsdurchsetzung durch gerichtliche Verfahren. Hilfreich sind dabei sicher auch die differenzierten Hinweise zur internationalen Zuständigkeit für Klagen von Fluggästen.
Abschließend zeigt der Autor Wege zur weiteren Rechtsfortbildung auf, indem Vorschläge unterbreitet, wie die Vorschriften der VO widerspruchsfrei zu regeln und Lücken "sinnstiftend" geschlossen werden können.
Diese Vorschläge für die Zukunft wie aber auch seine Ist-Analyse für die Gegenwart sind eine wertvolle Lektüre für Gesetzgeber und Rechtsanwender. Die heute prämierte Dissertation ist ein informatives Kompendium für alle, die den durch die VO Nr. 261/2004 aufgeworfenen Rechtsfragen nachgehen wollen. Gleichermaßen ist es ein nützliches Handbuch für den Praktiker, der mit dieser VO im Alltag arbeiten muss. Wer die Ansichten des Autors nicht teilt, ist aufgefordert, seine eigenen Argumente zu schärfen.
Es ist bedauerlich, dass der Preisträger, der derzeit in der Reise-, Transport- und Logistikbranche bei der Unternehmensberatung McKinsey in München tätig ist, heute nicht anwesend sein kann.
Ein nachvollziehbarer persönlicher Umstand hindert ihn, in Salzburg sein zu können.
Gleichwohl gelten ihm auch heute schon unsere Glückwünsche als DGfR-Preisträger 2012.