2004

Reiserechts-Förderpreis des Jahres 2004

Preisträgerin: Frau Dr. Beatrix Linder

Promotion: "Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik im Vergleich", erschienen bei der Nomos Verlagsgesellschaft

Laudatio zur Verleihung des 4. Reiserechtsförderpreises der DGfR in Göttingen am 24.09.2004

Von PräsOLG Edgar Isermann, Braunschweig

Der Internationalität des Tourismus folgt die Internationalisierung des Reiserechts. Das wird deutlich an der Auswahl der Preisträger für den Reiserechtsförderpreis, den die Deutsche Gesellschaft für Reiserecht in diesem Jahr erneut verleiht. Während die zuletzt prämierte Arbeit sich mit dem griechischen Recht befasste, beleuchtet die heute auszuzeichnende Arbeit das Pauschalreiserecht in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik. So trägt auch insoweit das Reiserecht dem Wandel der Zeiten Rechnung.

Dem Auswahlgremium, dem Frau Richterin am Amtsgericht Dr. Bidinger, Herr Rechtsanwalt Strangfeld und ich angehörten, lagen vier Arbeiten vor. Alle befassen sich mit hochaktuellen Themen. Alles sind lesenswert. Das Gremium hat entschieden, die Arbeit von Frau Dr. Beatrix Linder auszuzeichnen, die sie Ende 2003 als Dissertation bei der Juristischen Fakultät der Universität Rostock vorgelegt hat.

Mit Frau Dr. Lindner wird nicht eine Juristin ausgezeichnet, die sich in einer wissenschaftlichen Arbeit mehr oder weniger zufällig und singulär gerade dem Reiserecht gewidmet hat. Bereits als Studentin befasste sie sich mit diesem Rechtsgebiet, speziell unter dem Blickwinkel des Verbraucherrechts, und beobachtete die Entwicklung des Reiserechts über Jahre hinweg.

Sie hat in Rostock Rechtswissenschaften studiert und ihre Ausbildung um Stationen in Dänemark und Litauen bereichert. Von 1994 bis 1997 war sie studentische Hilfskraft und von 1997 bis 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bürgerliches und Europäisches Recht. Vor ihrer im Jahr 2002 aufgenommenen Promotionsarbeit war sie zwei Jahre lang Dozentin an der Universität Exeter in Großbritannien. Seit Mitte 2003 ist sie nunmehr Referentin im Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft.

Die Auszeichnung mit dem Reiserechtsförderpreis hat sie verdient durch ihre hervorragende Dissertationsschrift zum Thema:
"Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik im Vergleich".

Die mit Anhang gut 300 Seiten starke Arbeit orientiert sich am Leitfaden der nationalen und europäischen Verbraucherpolitik sowie der Pauschalreiserichtlinie der EU. Den Schwerpunkt bilden die Länderberichte über den jeweiligen Rechtszustand. Zunächst wird die Entwicklung des Zivilrechts in den letzten Jahren insbesondere seit 1918 geschildert. Allein diese Abschnitte sind interessant zu lesen, weil sie die geschichtlich bedingte Vielfalt und einen Wechsel in den Rechtsordnungen dieser Länder wiedergeben, wie er aus deutscher Sicht mit der demgegenüber großen Kontinuität des BGB unvorstellbar ist.

Mit der Öffnung der Grenzen 1989/90 musste der nationale Gesetzgeber auch auf das gesellschaftliche Phänomen des ansteigenden Tourismus reagieren. Statt der bis dahin bestehenden 8 polnischen Reiseunternehmen etwa gab es binnen kurzer Zeit 5.000 und in Ungarn statt 5 bald 1.000. Ebenso sehr, wie ein rechtliches Vakuum diese Vielzahl von Unternehmen entstehen ließ, genau so schnell führten die neuen Gesetzlichkeiten der Marktwirtschaft sie in die Insolvenz. Das war für die jeweiligen nationalen Gesetzgeber Anstoß zum Handeln. Nachdem sich aber die nationale Gesetzgebung gerade auf Neuregelungen eingelassen hatte, verstärkten alle drei Länder mit höchster Priorität ihre Orientierung hin auf eine europäisch ausgerichtete Politik. Die Richtlinien der EU wurden der neue Maßstab. Das umfasste auch die Richtlinie zum Pauschaltourismus.

Welche Maßnahmen dabei ergriffen wurden, um mit den Vorgaben der EU das nationale Recht neu auszurichten, wie Pauschalreise, Veranstalter, Vermittler und Reisender definiert wurden, Informationspflichten konkretisiert und die Vertragsbeziehungen zwischen Reiseveranstalter und Reisendem sowie der Insolvenzschutz ausgestaltet wurden, wird in der Arbeit eingehend untersucht. In einem weiteren Abschnitt wird das Ergebnis dieser Umsetzung mit den Vorgaben der Pauschalreiserichtlinie verglichen und im Einzelnen kritisch beleuchtet. Schließlich wird hinterfragt, wie das Pauschalreiserecht als Teil des Verbraucherrechts in der Praxis angewandt wird.

Die Autorin verfolgt dabei stringent die von ihr überzeugend gewählten Prüfschritte, vertieft sich anschaulich und nachvollziehbar in die jeweilige Rechtsordnung und macht deutlich, mit welchen gesetzlichen und verbraucherpolitischen Problemen die Transformationsländer zu tun hatten.

Ihre wissenschaftlichen Befunde führt sie in einem weiteren Kapitel zusammen und verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen nationaler Rechtreform und europäischer Harmonisierung. In einem Vergleich der Länder wird herausgestellt, dass bei den Änderungen des nationalen Zivilrechts im Hinblick auf das neue Europa Ungarn wegen eines früheren Beginns wirtschaftlicher Reformen eine gewisse Vorreiterrolle zukommt.

In ihrem Fazit zur Rechtslage kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass Polen, Ungarn und die Tschechische Republik heute über ein mit den Mitgliedstaaten der EU weitegehend harmonisiertes Pauschalreiserecht verfügen, indes mit einigen Ausnahmen, etwa bei der weiterhin unterschiedlichen Ausgestaltung des Insolvenzschutzes, aber auch dem durchweg festgestellten Umsetzungsdefizit beim Veranstalterbegriff im Hinblick auf nicht gewinnorientierte Unternehmen - offenbar ein Tribut an die Tradition des besonders preiswerten, nicht-kommerziellen Staatstourismus früherer Jahre. Polen hat sich häufiger als Ungarn und die Tschechische Republik darauf beschränkt, den Mindeststandard der Richtlinie mit Mindestaufwand umzusetzen. Die ungarischen Regeln übersteigen den Mindeststandard der Richtlinie gegenwärtig am häufigsten. Obwohl die Autorin das Pauschalreiserecht in allen drei Ländern in einer Zwitterstellung zwischen Verbraucher- und Tourismusrecht einordnet, hält sie den Schutz der Pauschalreisenden für gegeben, allerdings weniger als praktiziertes Individualrecht, sondern als einen Aufgabenbestandteil verbraucherschützender Institutionen.

In den Fokus ihrer resümierenden Betracht stellt die Autorin die Frage, wie es um den Zugang der Verbraucher zum Recht und um die Verbraucherschutzakteure im Allgemeinen bestellt ist. Hier sieht sie das eigentliche Problem. Recht haben und das Recht auch verwirklichen zu können, ist offenbar in diesen Ländern noch allemal ein besonders großer Gegensatz.

Die individuelle Rechtsdurchsetzung scheitert oft daran, dass sich die Reisenden selbst ihrer Rechte entweder nicht hinreichend bewusst sind, weil Verträge in früherer Zeit keine praktische Bedeutung hatten und ihre heutige rechtliche Bedeutung deshalb noch verkannt wird. Oder sie scheuen aus anderen Gründen den Gang zum Gericht, etwa die dort überall lange Verfahrensdauer. Der Verbraucherschutz realisiert sich deshalb eher über Verbraucherschutzeinrichtungen. Letztere sind allerdings vielfach überlastet und können deshalb die ihnen übertragenden Aufgabe nicht effizient genug wahrnehmen. Neben jeweils staatlichen Verbraucherinstitutionen gibt es in allen drei Ländern flächendeckend nichtstaatliche Verbraucherschutzorganisationen. In Polen kommen noch 374 von den Gemeinden angestellte Verbraucher-Ombudsleute hinzu. Ein großes Problem für einen effektiven Verbraucherschutz ist dabei die in allen Ländern die schlechte Finanzlage der genannten Institutionen. Bei diesem Befund greift die Arbeit aber nicht auf empirisch-wissenschaftliche Erhebungen zurück, sondern im Wesentlichen auf Einzelinterviews mit Vertretern der Verbraucherschutzorganisationen, der Anbieterverbände, der staatlichen Behörden und sonstigen Reiserechtsexperten.

Als Alternative zur Justiz kommt in Polen und Ungarn den Schlichtungsstellen eine besondere Bedeutung zu. Schwieriger gestaltet sich insoweit die Situation in der Tschechischen Republik, weil bisher dort keine solchen Institutionen zur alternativen Streitbeilegung in Verbrauchersachen geschaffen wurden.

Um den Verbraucherschutz in diesen Ländern mit Leben anzufüllen, muss nach Ansicht der Autorin vor allem die Rolle privater verbraucherschützender Organisationen weiter gestärkt werden. Mit einer Erziehung der Verbraucher zum Marktbürger leisten ihrer Ansicht nach damit diese Verbraucherorganisationen zugleich einen wichtigen Beitrag zur Demokratisierung ihrer Gesellschaften. Die Unwucht, die zwischen den Verbrauchern dieser Länder und den Verbrauchern anderer europäischer Mitgliedstaaten besteht, sollte - so der Appell unserer Preisträgerin - stärker in den Blickpunkt der Verbraucherpolitik rücken, weil es zahlenmäßig nicht zu vernachlässigende Verbrauchergruppen gibt, die schutzbedürftiger sind als andere. Zwar ist in allen drei Ländern der Incoming-Tourismus von größerer Bedeutung für die nationale Wirtschaft als der Outgoing-Tourismus. Wie wichtig das Pauschalreiserecht für die Bürger dieser Staaten gleichwohl ist, lässt sich an den Zahlen der Auslandsreisen belegen. Für das Jahr 2002 werden für Tschechien z.B. 34,3 Mio. und für Ungarn 12,9 Mio. Auslandreisen verzeichnet.

Die Ende 2003 abgeschlossene Arbeit wirft aber auch noch einen Blick in die Zukunft, nämlich in die heute geltende Rechtslage nach Beitritt dieser Länder in die Europäische Union. Es betrifft die in den Umsetzungsgesetzen aller drei Länder begründete Niederlassungspflicht für ausländische Reiseveranstalter, die im eigenen Namen auf dem jeweiligen Markt tätig werden wollen. Diese nationalen Absicherungsregelungen verstoßen gegen die Dienstleistungspflicht des Artikel 49 EG-Vertrag. Sie sind geschaffen, um die heimische Tourismusindustrie vor dem Wettbewerbsdruck durch große Veranstalter aus EU-Mitgliedsstaaten zu schützen. Letztlich treffen diese Regelungen jedoch vorrangig kleine und mittlere Veranstalter aus anderen mittel- und osteuropäischen Ländern, die sich eine Zweigniederlassung im Nachbarland nicht leisten können. Für die großen westeuropäischen Veranstalter sind diese gesetzlichen Grenzen faktisch jedoch keine Grenzen für ihr Marktverhalten.

Frau Dr. Lindner hat eine qualifizierte Arbeit vorgelegt, die in die Zeit nach der Erweiterung der EU in diesem Jahr passt. Sie hat den Förderpreis verdient.